Eine neue Medizin?
Davon ausgehend, dass alle Lebensvorgänge vom Gehirn und Nervensystem gesteuert werden, kann theoretisch jedes körperliche und psychische Problem und jede Krankheit aus deren Sicht als „Störung“ dieser Steuerung beschrieben werden. Betrachten wir dazu wie unser Gehirn funktioniert: Eigentlich haben wir nicht ein Gehirn, sondern viele „Teilgehirne“ mit unterschiedlichen Aufgaben, Funktionen und Arbeitsweisen. Sie müssen alle zu jedem Zeitpunkt ihr Tun aufeinander und auf die aktuellen (Umwelt-)Bedingungen abstimmen. Gelingt dies, dann ist der Mensch im „Gleichgewicht“ und dies ist die Basis für Gesundheit.
Krankheit bedeutet also immer eine Kommunikationsstörung zwischen Teilgehirnen, ein Verlust des Gleichgewichts. Ich nenne dies „Spannung“ und sie spielt die zentrale Rolle in der KKT. Spannung entsteht aus einer zunächst sinnvollen Schutzreaktion (Stressreaktion) auf körperliche und psychische Belastungen und Bedrohungen wie Unfälle, Überlastungen, Infektionen, Traumata, Verluste, Verletzungen, Schädigungen, Entzündungen usw. Sie rettet Leben, kompensiert und möchte ausgleichen, indem sie (vorübergehend) Gehirnfunktionen, also das Zusammenspiel von Teilgehirnen verändert.
Weil sich so eine Reaktion wie jeder Vorgang im Gehirn immer körperlich und psychisch zeigt, weil sich die beiden Ebenen wechselseitig beeinflussen, auslösen und somit verändern, können sie sich unter bestimmten Umständen als (unbewusstes) Spannungsverhalten manifestieren. Es wird sozusagen vom Nervensystem „gelernt“ und zur Gewohnheit, gerät in eine „Spirale“ und führt über Dauerbelastungen, Ungleichgewicht und Rhythmusstörungen zu Problemen der Selbstregulation körperlicher und psychischer Prozesse und weiter zu komplexen chronischen, körperlichen und psychischen Erkrankungen.
Das heißt auch: die objektive körperliche und psychische Ursache, Belastung, Schädigung und Störung ist das eine. Die Problematik, die daraus für den jeweiligen Menschen entsteht, wird durch sein individuelles (unbewusstes) Spannungsverhalten bestimmt. Spannung ist also an jeder Krankheit beteiligt und bestimmt ihre Erscheinung, ihre Ausprägung und ihren Verlauf. Sie kann sogar ohne objektive Ursachen zu entsprechenden Problemen führen („somatoforme Störungen“) 40, 60, 73, 89,90 und ist die Basis, auf der „Stress krank macht“.
Lassen Sie mich das kurz an zwei Beispielen aufzeigen (Bei Interesse finden Sie dazu eigene Kapitel auf meiner Homepage):
(1) Schmerzen
Die Verletzung, Schädigung, Entzündung, Abnutzung usw. sagt noch nichts über den Schmerz aus, den der Betroffene erlebt. Es gibt Menschen mit eindeutigem Schaden (z.B. Bandscheibenvorfall) ohne Schmerzen und solche, die ohne objektive Ursachen und nach deren Beseitigung noch immer starke Schmerzen haben. Sie fühlen sich oft nicht ernst genommen, ihr Schmerz ist „psychisch“ und damit „eingebildet“. Doch das Schmerzerleben hängt von der „myofaszialen Spannung“ ab, also der „Spannung“ im System von Muskulatur und Bindegewebe. Diese hat der Organismus des Patienten im Zusammenhang mit körperlichen und psychischen Belastungen im Laufe seines Lebens sozusagen „gelernt“, d.h. in ihr sind immer auch psychische Komponenten enthalten, etwa eine durch Muskelspannung „verdrängte“ (und damit aktuell nicht bewusst erlebte) Angst oder Wut.
(2) COVID 19
Bei diesem aktuell brisanten Thema wird besonders deutlich, wie dieselbe objektive Ursache – ein Virus oder auch die Impfung dagegen – zu völlig unterschiedlichen Reaktionen und Problemen führen kann: körperlich und psychisch, kurzfristig oder langandauernd, kaum spürbar oder tödlich. Auch dies wird bestimmt durch die psycho-somatische Spannung des Betroffenen, also seinen lebensgeschichtlichen Belastungshintergrund.
Was bedeutet das für Behandlung und Therapie?
Die Orientierung an der Spannung nimmt den Leben rettenden, Ursachen beseitigenden, reparierenden und Symptom betäubenden Behandlungen natürlich nicht ihre Bedeutung. Entscheidend jedoch ist, wie diese durchgeführt werden und oft genug wird dabei das daran gekoppelte körperliche und psychische Spannungsverhalten des Organismus nicht ebenfalls harmonisiert. Es kann sogar intensiver und komplexer werden, Probleme verschlimmern und neue schaffen. In der Regel wird dann auf die gleiche Art weiterbehandelt, werden Reparaturmaßnahmen durchgeführt und Symptome medikamentös betäubt. Wenn man Glück hat, erhält man eine unterstützende Psychotherapie, die jedoch am Leiden vieler Patienten nichts ändert. Spätestens hier wird es wichtig, sie dabei zu unterstützen, ihr somato-psychisches Spannungsverhalten selbst wieder regulieren zu lernen. Denn es bestimmt Intensität, Dauer und Art des Schmerzes bei einer Verletzung und Schädigung und beeinflusst langfristig auch die strukturellen Gegebenheiten selbst, etwa die „Abnutzung“ und „Entzündung“ eines Gelenks oder die „Verkürzung“ und den „Abbau“ eines Muskels. Es bestimmt das Ausmaß der Angst bei einem traumatischen Erlebnis, den Grad der Depression und Erschöpfung, die Ausprägung von Allergien und Unverträglichkeiten, das Krankheitsgeschehen im Zusammenhang mit einer Infektion oder auch die Wirksamkeit von und die Reaktion auf Medikamente und damit deren „Nebenwirkungen“.
Spannung bedeutet, dass verschiedene Bereiche des Gehirns „verlernt“ haben, sich „richtig“ aufeinander abzustimmen, also miteinander zu kommunizieren. Behandlung bedeutet, ihnen durch entsprechende Informationen dabei behilflich zu sein, das (unbewusste) Spannungsverhalten auf körperlicher und psychischer Ebene neu zu organisieren und ins Gleichgewicht zu bringen und so über Selbstheilung die Gesundheit zu aktivieren. Da Aktivitäten von Muskulatur und Bindegewebe (sogenannte „myofasziale Prozesse“) die Basis aller körperlichen und psychischen Lebensvorgänge sind (siehe voriges Kapitel) und damit myofasziale Spannung an allen gesundheitlichen Problemen beteiligt ist, setzt die KKT hier an. Wie das geschieht, beschreibt das nächst Kapitel.